Reisen zum Krieg

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Artikelnummer: KLZ-104990

Beschreibung

Die Regale der Buchhandlungen quellen über, Zeitungen und TV-Stationen überbieten einander mit Geschichten über die fast vergessene Urkatastrophe unseres Kontinents, den Ersten Weltkrieg. Was blieb da für Journalisten noch zu tun?

Die Redaktion der Kleinen Zeitung entschied sich für die klassische Form der Reportage.
Fünf Redakteure packten ihre Koffer und fuhren an Orte, die bis heute vom Krieg gezeichnet sind oder deren Namen Erinnerungen an ihn wachrufen. Sie suchten nach Spuren der Verheerungen, nach den Wunden in den Menschen, nach Relikten, die bis heute von dem ungeheuerlichen Krieg zeugen.

Die Reisen führten an die Peripherie der Monarchie und darüber hinaus, überall dorthin, wo Soldaten Österreich-Ungarns gekämpft haben und gefallen sind.
Keine Reportage ohne Fotografie. Wir entschieden uns, nicht nur mit hervorragenden Fotografen zusammenzuarbeiten, sondern auch Material aus dem Archiv zur Illustration des kaum Vorstellbaren zu nutzen.
Die Reisen zum Krieg

Sarajevo

In Sarajevo, wo der Weltenbrand vor hundert Jahren seinen Ausgang nahm, ist der „Große Krieg“ heute nur mehr ein ferner Schimmer. Die Erinnerung wird überlagert vom jungen Krieg in den Neunzigern, dessen Wunden nicht heilen. Die Menschen sehnen sich nach Europa und fühlen sich alleingelassen. Eine bleierne Erwartungslosigkeit liegt über der schönen Stadt. Wir erkundeten sie. Der bosnische Dichter Dzevad Karahasan begleitete uns.

Bei Svejk in Przemysl

Julian Smuk ist Svejk. In den späten Neunzigerjahren hat der Pole aus Przemysl seine Passion für die Romanfigur Jaroslav Haseks entdeckt. Er schaffte sich eine Uniform an nebst allem Zubehör des braven k. u. k. Soldaten. Mit den Jahren ist Smuk verwachsen mit der Figur, er denkt, handelt und redet wie Svejk. Gegen Geld tritt er bei Hochzeiten auf, führt Touristen durch die Festungsanlagen oder in „sein“ Restaurant „Melde Gehorsamst“. Dort trafen wir das Original.

Przemysl, die Festung

Was Stalingrad für die Sowjetunion war, war die Festung Przemysl für die Habsburgermonarchie. Das Bollwerk durfte nicht fallen, zu groß wäre der Prestigeverlust gewesen. Heute sind von den 15 ringförmig um die südostpolnische Stadt angelegten Bollwerken noch imposante Ruinen übrig, gut getarnt unter wucherndem Gesträuch. Erst jetzt, hundert Jahre nach dem Krieg, entdeckt die Stadt das touristische Potenzial der Wehranlage, die zu Kriegsbeginn schon veraltet war.

Drohobytsch

Drohobytsch ist eine kleine Stadt in der Westukraine. Die Brüder Jaroslaw und Wassyl Lopuschanskyj lehren hier Germanistik. Vor zwei Jahren erfuhren sie, dass ihr Großvater 1914 nach Graz verschleppt und im Lager Thalerhof mit Hunderten anderen Ukrainern einer Epidemie zum Opfer gefallen war. Russenfreundlichkeit lautete der Vorwurf der Österreicher, das genügte für die Verschleppung im Viehwaggon. Warum ausgerechnet Graz? „Weil es weit weg von der Front und Galizien war.“ Nun suchen die Lopuschanskyjs Familien, denen Ähnliches widerfuhr.

Verdun

Jean-Pierre Laparra ist kein gewöhnlicher Bürgermeister. Fleury-devant-Douaumont besteht aus zwei Ortstafeln und einer Kapelle, hat aber keine Einwohner. Auch Häuser, Gassen, Plätze, ein Rathaus sucht man vergeblich. Fleury wurde während der Schlacht von Verdun dem Erdboden gleichgemacht. Im Zuge des Lokalaugenscheins enthüllte Laparra beiläufig, dass unweit der Schlachtfelder auch Österreicher beerdigt sind – allerdings als deutsche Gefallene geführt werden. Das rief einen österreichischen Diplomaten auf den Plan.

Gallipoli

Die türkische Halbinsel Gallipoli wurde zum Massengrab für Hunderttausende Soldaten. Das untergehende Osmanische Reich schlug hier seine letzte siegreiche Schlacht gegen die Westmächte. Gallipoli ist auch Geburtsort zweier Nationen. Die Australier, die hier kämpften, litten und starben, entwickelten eine Art nationales Zusammengehörigkeitsgefühl. Und der Stern von Mustafa Kemal Atatürk begann auf der Halbinsel aufzugehen. Zahlreiche Denkmäler erinnern in Gallipoli an den Kriegshelden.

Ypern

Unglaubliches ereignete sich am Christtag 1914 unweit von Ypern. Hinter dem Kreuz verlief die Front zwischen Deutschen und Briten. Statt weiter aufeinander zu schießen, warfen die Soldaten die Gewehre zur Seite, krochen aus ihren Schützengräben und spielten dann sogar mit einem Fetzenlaberl, das im Museum zu Ypern zu besichtigen ist, eine Runde Fußball. Zum Gedenken an dieses beklemmende Ereignis haben Touristen aus aller Welt ihre Fußball-Fanartikel zurückgelassen.
Weitere Informationen

Autoren: Hubert Patterer, Thomas Götz, Stefan Winkler, Michael Jungwirth, Uwe Sommersguter

Fotos: Zajc, Wolf, Karmas, Weichselbraun

288 Seiten

Leseprobe

1300 Kinder fanden im Krieg den Tod. Eine Skulptur erinnert im Veliki-Park an ihr Schicksal, sie zeigt ein zersplittertes, zu grünem Glas erstarrtes Herz. Noch immer kommen ehemalige Schulkameraden oder Angehörige an den Gedenkort und legen Blumen hin. An den Wochenenden, erzählen sie, sei es am schlimmsten gewesen, denn da wusste man: Die Belagerer auf den Hängen ließen gegen Bares Scharf- und Jagdschützen einfliegen, aus Belgrad, Moskau oder woher auch. Sie gingen auf Safari, und für jedes Todesopfer, so geht die Erzählung, habe es eine Sonderzahlung von hundert D-Mark gegeben. Sie hätten auf die Kinder gezielt und, nein, hätten sie zunächst nicht töten wollen. Die Schreie der Minderjährigen sollten die Verteidiger aus ihren Stellungen zwingen.

Unter der Woche hätten langsam, im Tempo eines Laufschritts fahrende Busse den Kindern Deckung geboten, um in die Schulen zu gelangen. Die Klassenzimmer seien abgedunkelte Kellerräume gewesen. Ihre ersten vier Jahre habe sie in einem solchen Keller zugebracht, erzählt die Studentin Dženana Sirucic, die wir am Campus in der Österreich-Bibliothek treffen, einem kleinen, engen Raum, der im Winter unbeheizt bleibt, weil das Geld fehlt. Das Einzige, das sie in der Kellerkindheit von der Außenwelt wahrgenommen habe, seien Schüsse und Schreie gewesen. „Ich höre sie heute noch“, sagt sie. Andere Mütter flohen mit ihren Kindern und fanden Zuflucht im leeren, in der Monarchie erbauten Hotel Europa. Es roch nicht nach Kakanien, sondern nach Feuer und Rauch. Die Monarchie hatte nicht nur elektrifizierte Straßenbahnen nach Sarajevo gebracht, Wasserleitungen, das erste Apollo-Kino, pedante Beamte, das erste Gymnasium, den Salon, den Fußball oder das Zitherspiel, sondern auch die ersten Ziegelwerke. Der Baustoff war besonders robust und seine Konsistenz widerständig. Die Ziegelbauten aus der Jahrhundertwende hielten den Beschüssen während der Belagerung länger stand als alle anderen Objekte der Stadt, nur das Hotel Europa, in dem sich die Mütter mit ihren Kindern nach der Flucht in Sicherheit wähnten, sie retteten selbst die Ziegel des alten August-Braun-Werkes nicht.

Aus: Hubert Patterer: Späte Rose im Regen